Oh mein Gott! Es klappert unterm Bus!!!! Oder ist es im Bus? Neben dem Bus? Überm Bus? Es ist Freitag und wir sind auf dem Weg in den mittleren Altas. Wir sind in der letzten halben Stunde mindestens 1000 Meter hochgeklettert und ich bin besorgt, weil Matthias besorgt ist, weil er nicht weiß, was da manchmal klappert und manchmal nicht. Dafür klettert wenigstens das Thermometer wieder runter. In Fés hatten wir einen Rekord von knapp 40°, wobei in dem Gassenlabyrinth der teilweise überdachten Medina, es deutlich kühler ist. Was sich wieder relativiert, da jeder von uns einen Heizkörper auf dem Rücken trägt, für 7 Stunden Fußmarsch durch gefühlte 9500 Gassen von Fés, womit wir jede Gasse von Fés einmal betreten hätten. Fés hat die größte Medina der Welt, der Ring um die Altstadt ist ganze 16km lang. Die Gassen sind teilweise so eng, dass gerade noch ein volbepacktes Maultier durch passt. Also wir. Kommt dann ein anderes im Galopp auf uns zu und hört man die warnenden Rufe „Balak, balak!“ Dann heißt es schleunigst in einen Eingang hüpfen oder sich an die Wände pressen. Und wie bei einer Stadt am Hang üblich, steigt man die Gassen entweder steil bergauf oder bergab. Wir haben Glück und parken oben. Dankbar dafür, dass wir es zunächst einfach haben, ahnen wir noch nichts vom Rückweg 6 Stunden später.
Nachdem wir also am Mittwoch einen kompletten Ferientag hatten mit Faulenzen, warmduschen, Essen gehen, Kinder-Planschdusche, mit Maja ins Schwimmbecken und zusammen mit den ebenfalls 9,5 Monate jungen Moritz und seinen Landcruiser-Abenteurer-Eltern die Camping- Kita einrichten. Am Campingplatz bekommen wir für Donnerstag einen persönlichen „guide officiel“ organisiert. Matthias sagt, als ich versuche die Eindrücke dieses Tages aufzuschreiben: „Schreibst du: Fés muss man selber erleben, fertig, inshallah!“ Ich versuch’s trotzdem. Die Herausforderung ist, jeden Satz nacheinander schreiben zu müssen und keine Parallelsätze, obwohl man durch ein Paralleluniversum gegangen ist, wo 1001 Sinneneindrücke (hat man wirklich nur sieben Sinne?) auf einmal existieren.
Hamid kutschiert uns am nächsten Morgen mit seinem Auto nach Fés. Mit seiner zurückhaltenden, ruhige Art bekommen wir eine wunderbare, beeindruckende Führung im eigenen Tempo. Hamid ist in Fés geboren und führt seit 1986 die Menschen durch die Stadt und er weiß alles. Zuerst geht es auf einen Aussichtspunkt von wo aus wir zum ersten Mal hinunterschauen können auf die riesige 2 Millionen Stadt. Alles sieht ruhig aus, doch wie wir wissen, brodelt zwischen den Lehmbauten das bunte Leben der Suqs und wir können gar nicht abwarten uns hineinzustürzen. Mit offiziellen Führer quatscht dich auch kaum einer an, und wir entdecken die ein oder anderen Dinge, die wir niemals zu sehen bekommen hätten. Im Auto unterhalten wir uns viel mit Hamid: zum Beispiel über den König, der ein guter Mann zu sein scheint und vieles für sein Land und die Menschen, insbesondere die Armen tut. Er setzt sich füt die Rechte der Frauen ein und treibt die Arbeit im Lande voran. Wir halten vor dem königlichen Palast und als ich ihr erzähle, dass manchmal dort ein König wohnt: „Kann die Maja mal die Königin anschauen?“ Gottseidank haben wir einen Guide für uns alleine, denn wir brauchen schon zwanzig Minuten um aus dem engen Auto herauszukommen, Wasser und Co. wieder einpacken, dafür die Mützen suchen, diese wieder auspacken, jedem die richtige Mütze anziehen, Sonnencreme gab’s schon innerhlab der Stunde vor Abfahrt, Maja in die Trage, Susanna aufwachen lassen, sie von der Trage überzeugen, in meine Babytrage rein, Mützen richten, Maja überzeugen, dass sie die Mütze anlassen muss, Gürteltasche anschnallen, zwischendurch Wasser trinken, Wasser wegpacken, Wasser auspacken, weil Maja doch noch Durst hat, Wasser wieder weg, Dizi suchen, alles sonnensicher? Und los geht’s. Matthias und ich brauchen eigentlich immer wenn wir gerade losgehen als Erstes entweder eine Pause oder was zu essen. Da trifft es sich gut, dass wir uns zunächst ins Lebensmittelsuq stürzen. Übrigens sind wir in irgendeiner TV-Serie als unfreiwillige Statisten zu sehen, wie wir gerade mal wieder Majas Hut richten und Wasser zurückpacken! Unsere leckeren Brot-Crépes mit Ziegenkäse reinstopfend schlendern wir an den vielen, dicht an dicht gereihten Ständen vorbei. Lebensmittel sind dort tatsächlich teilweise noch lebend oder gerade noch am Leben gewesen, wie zu meiner Linken das Hähnchen dem gerade der garaus gemacht wird. Wir sehen allerlei Meerestiere, Rinderhufe, Ziegenköpfe, lebende, gerupfte und schon länger tote Hühner, einen Haufen Darm und andere Innereien und sogar ein Stand mit Kamelfleisch und damit das jeder weiß ganz vorne der Kamelkopf. Man sollte meinen, man müsste sich die Nase zuhalten, doch da es auch immerwieder Gewürzstände und kleine Imbisse gibt, riecht es alle drei Schritte wunderbar würzig anders. Die ganze Medina ist ein faszinierendes Geruchserlebnis, man muss fast der Versuchung wiederstehen, an den Hauswänden zu riechen, denn selbst in den unscheinbaren Mini-Gassen hängt ein leichter Orientduft. Von aussen sehen die lehmigen Wände der Gassen ganz unscheinbar aus wie eine Festung. Doch Hamid führt uns in ein Riad hinein um zu zeigen, wie es hinter diesen Mauern ausschaut. Ein Riad ist unter anderem der Innenhof dieser Häuser und selbst Maja wird plötzlich hellwach und möchte einfach nur noch raus aus der Trage und schwimmen gehen, da dort drinnen ein türkiser Mosaikbrunnen ähnlich wie ein Swimmingpool plätschert umgeben von gekachelten, bunten, spiegelglatten, sauberen Böden und Säulen mit Palmen und alten Holzmöbeln. Wir erreichen die Gerbereien, ebenfalls ein Geruchserlebnis und man reicht uns frische Pfefferminzpflanzen als „Gasmaske“. Durch einen bunten Laden, der wie die Meisten etwa drei Stockwerke hoch ist, in der Mitte kann man ganz zum Dach schauen und die Etagen sind eher wie einn roßer Rundumbalkon, kommen wir über enge steile Treppen irgendwie mit den Tragen aufs Dach des Hauses, von wo wir einen Blick über die Gerber-Bottiche, Mühlen, Wassertröge, reihenweise aufgehangenen, gegerbten Tierhäute und den Gerbern bei der Arbeit selber haben. Bei knapp 40°. Wow! Die Arbeit läuft weiterhin so ab wie sie schon immer war, und seit Jahrhunderten abgelaufen ist, wie jedes Handwerk hier in Marokko. Jeder Vater gibt sein Handwerk weiter an seine Söhne beziehungsweise die Mütter an die Töchter. Jedes Suq hat ein bestimmtes Handwerk wie Gerbereien, Webereien, Steinmetze, Töpfereien, Kesselflicker, zwischendurch Messerschleifer, Nähereien, Eisenschmiede, Sattler, Hochzeitsausrüster, Schlächter, Schweißer, Holzhandwerker, Tischler, Künstler usw. und es gibt immer einen „Chef“ in den Suqs oder in der Gasse, der auf die Qualität der Arbeit acht gibt, aber auch, dass sich die Handwerker untereinander unterstützen. Alles wird per Hand gemacht! Und das nicht für die wenigen Touris, sondern weiterhin um sich selbst untereinander zu versorgen. Als wir an einem Junge vorbeikommen, denken wir zunächst der misst irgendwas mit einem irrelangen Faden an der Lehmwand aus, dabei hat er einen Nagel etwa zehn Meter weiter in die Wand geschlagen und ist dabei, Fäden, die ursprünglich von einem Kaktus kommen, einzurollen. Wir sind fasziniert von der ganzen Motivation, Kreativität, dem Miteinander und Freude, die diese Handwerker begleitet. Andauernd hört man von irgendwo her jemanden singen, hämmern, schleifen, klopfen, rufen, verkaufen, klatschen, schnipsen (Kindern wird zur Bespaßung zugeschnipst) oder sich angeregt auf arabisch unterhalten. Nebenbei verändern sich weiterhin die Gerüche je nachdem in welchen Suq man sich gerade befindet. Bei der ganzen Begeisterung für die Ungezwungenheit, ist uns dennoch bewusst, das die Menschen hier alle nicht viel Geld verdienen und ihre Arbeit, wenn auch mit Freude, aber für’s Überleben brauchen. Wir treffen auf einen alten Mann, der auf seinem Buckel eineriesigen Ziegenlederbeutel trägt und mit lauter Kellen und Schüsseln behangen ist. Hamid erklärt uns, dass der Mann Wasser an die Handwerker verteilt und wenn man möchte kann man ihm dafür was geben oder auch nicht. Ein anderer älterer Mann geht ziemlich aufgeregt in dem harschen Arabisch rufend und schimpfend an uns vorbei, doch er hat nur für die Menschen hier gebetet.
Nach ein paar Stunden Fußmarsch sind wir dankbar für eine Pause. Wir werden in eine der unscheinbaren Hauseingänge geführt und landen in einem Restaurant mit gemütlichen orientalischen Couchecken. Gottseidank mal ein wenig Ruhe, einfach nur Hinsetzen. Oh mann! Welch ein Trugschluß, denn jetzt kam hochprozentiges Leben in die Kinder, die sich ja die ganze Zeit schon ausgeruht haben. Noch nie war ein Mittagessen so anstrengend! Die Zwei turnen, quasseln, quietschen, wollen dies haben und das, das aber nicht, dafür das. Wir wollen einfach nur die herrlichen tausend Tajine- und Couscous- und Gemüse- und Fruchtschalen leer essen. Kein Pardon wir Beide haben beide Hände voll zu tun die Beiden in Schach zu halten, und so bleibt das Meiste leider ungegessen, was auch daran lag, dass es viel zu viel ist. Als wir kurz vorm Platzen sind, bekommen wir noch schrecklich, furchtbar, warmes, köstliches Nuss-Nougat-Mandel-Irgendwas-Gebäck gereicht.
Kinder sind kleine Götter für die Marokkaner, Babys stehen sogar noch eine Stufe drüber. Jeder möchte Susanna anfassen, ihr zuschnipsen, sie auf den Arm nehmen und wenn wir uns kurz wieder unseren Teppichverkäufer widmen ist sie auch schon weitergereicht worden. Nein, wir tauschen sie nicht gegen hundert Teppiche. Aber wir setzen darauf, dass Susanna ihr Cute-and-Cudly-Bonus ausspielt auf dem Arm des Händlers. Diesmal bekomme ich das Berber-Kompliment und er versichert uns, dass er er nur auf den Preis eingeht, weil wir keine Amis sind, aber eigentlich haben wir das Gefühl, wir sind auf seinen Preis eingegangen, weil wir uns in seinen Teppich verliebt haben.
Die Tour geht weiter zu den Toren der Moschee, in die alte Koranschule, durch weitere Suqs, an anderen Packeseln vorbei und wenn ich nicht so k.o. wäre vom Susanna tragen und der Hitze, könnte es noch lange weitergehen. Den Weg zurück hätte ich schon nach den ersten 500 Metern nicht mehr sagen können, wir folgen einfach Hamid, der für uns unsere Souvenirs trägt, da wir mit den Beiden wirklich vollbeladen sind und offensichtlich sehr müde. Eine knappe Stunde brauchen wir alleine für den Rückweg, immer weiter hoch, das geht bei mir nur noch im Gänsemarsch mit kleinen Stehpausen. Im Eiltempo leeren wir danach unsere Wasservorräte, doch kurz mal ins Auto gesetzt, ist der Entdeckungsgeist wieder da und so fahren wir noch kurz zu den berühmten Töpfereien und Mosaiksteinmetzen von Fés. Es ist Abend als wir zurückkommen, was in Marokko bedeutet, jetzt fängt der Tag erst richtig an! Maja und Susanna kennen das schon… Uff! Für uns steht fest, wir brauchen Abkühlung und vor allem mückenfrei. Und die gibt’s auf dem weiteren Weg in die Sahara. Wir verabschieden uns am Freitag nicht nur von Moritz, sondern auch von den Schildkröten im Fluss nebenan. Mit einem Abschiedgeschenk. Dabei wollte Maja nur gucken, ob ihr Lieblingsschuh auch schwimmen kann…
Mittlerweile sind wir nach einem unfreiwilligen Umweg über einen knapp 2000er Pass auf 1500 Meter angekommen. Auf der Fahrt schon fielen ganz unverhofft immer wieder Regentropfen runter und ich rief erfreut „Kuckmal! Hier gibt’s sogar Wolken!“. Wie gut das tut, die Hand rauszustrecken und sich vom Regen erfrischen zu lassen! Hier in Azrou im mittleren Atlas kühlt es nachts auf unter 10° ab und zurzeit frieren wir tagsüber bei 20°. Versteckt zwischen Kirschbäumen und ein paar wenigen freilaufenden Campern, Katzen, Küken und Hühnern sowie riesengroßen Storchennestern auf den Dächern inklusive Storchengroßfamilie müssen wir einen Tag Zwangspause einlegen. Meinen halben Tag verbringe ich mit der Jonglage von zwei quirligen Kindern, einen Haufen Hühnern, die die Spielsachen untersuchen wollen, Küken, die auf Susannans Decke spazieren gehen und einen von Durchfall und Übelkeit geplagten Ehemann. Armer Matthias, aber es geht schon. Maja freundet sich mit der kleinen spanischen Indra und dem etwas älteren Marokkaner Abdul an und Susanna geht auf Entdeckungstour, da sie nun zu den Krabbel-Beginnern gehört. Wir könnten Wetten abschließen, wer nach fünf Minuten frische Klamotten, am schnellsten und intensivsten wieder völlig verstaubt und dreckig ist. Diesmal hat Maja gewonnen. Sie hat eine Stelle echter, staubiger lehmfarbener marokkanischer Erde gefunden, die sie nicht nur jedem verschenkt, sondern auch in die Luft wirft. Sie und die Erde sind nicht mehr zu unterscheiden. Man könnte auch sagen sie ist jetzt geerdet. 🙂
Matthias geht es nun wieder gut, und wir scheinen trotz der Enge unseres Schlafgemachs nichts abbekommen zu haben. Wir bleiben noch einen weiteren Tag, denn hier soll’s in der Nähe handzahme Berberaffen geben.